Bundestagswahlen 2021

Auf was haben wir uns nur eingelassen?

Der ehemalige Bundesaußenminister und Vizekanzler Joschka Fischer erzählte ein Bonmot über Herbert Wehner, der nach einer gewonnenen Wahl zwischen ausgelassenen SPD-Mitgliedern besonders griesgrämig ausgesehen und auf die Frage für seine schlechte Laune geantwortet haben soll: „Ich denke daran, was auf uns zukommt!“

Gleichgültig, wie auch die neue Bundesregierung aussieht, sie wird es sehr schwer haben, denn viele Dinge sind im Wahlkampf angerissen, nicht ehrlich kommuniziert oder ausgelassen worden. Die überragenden Themen waren der Klimaschutz, die insb. Corona-bedingten finanziellen Folgen und die Aussage, so wie bisher könne es nicht weitergehen. Beim Klimaschutz konnte zum Teil der Eindruck gewonnen werden, dass die Welt untergeht, wenn nicht alles dem Klimaschutz unterworfen wird und deshalb alle übrigen Probleme nur untergeordnet sind.

Folgende zwei Bereiche unter der Überschrift Sicherheit für das Alter sollen in diesem Zusammenhang näher beleuchtet werden:

  • Inflation
  • Sicherheit der Rente

„Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not!“

Insbesondere die älteren von uns kennen dieses alte Sprichwort, und es steckt tief in uns. Hintergrund ist der Gedanke einer verantwortungsvollen Selbstvorsorge („Selbst ist der Mann“) und nicht der Schrei nach der Vorsorge durch den Staat. Die nicht verzinsten Sichteinlagen und das Bargeld der privaten Haushalte in Deutschland betrugen nach einer Studie der DZ Bank Ende 2020 über € 2 Billionen, Beträge, die also weder in den Konsum gegangen sind oder etwa in Aktien angelegt wurden. Wirtschaftlich ist diese Art der „Geldanlage“ schlecht, denn sie ist in hohem Maße inflationsgefährdet. Es ist originäre Aufgabe der Europäischen Zentralbank die Inflation zu bekämpfen, wobei dieses bis 2020 erfolgreich bei einem schwierigen Umfeld mit der Niedrigzinspolitik gelungen ist. Dieses sieht 2021 aber bereits anders aus: In der Eurozone sind die Verbraucherpreise zuletzt um 3 Prozent gegenüber Vorjahr gestiegen, in Deutschland für sich betrachtet sogar um 4,1 Prozent (September 2021). Laut EZB-Chefin Christine Lagarde gibt es zwar einige Faktoren, die die Teuerung hochtreiben könnten, erwartet wird dieses aber auf Dauer nicht. Daher gehe die EZB in ihrem Basis-Szenario weiter davon aus, dass die Inflation mittelfristig unter dem Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent bleiben werde (Wirtschaftswoche-online 27.09.2021).

Wie wird die Inflation im EURO-Raum überhaupt errechnet?

Die Berechnung erfolgt nach dem sog. harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), der auf einem durchschnittlichen Korb an Waren und Dienstleistungen beruht, der die Ausgaben aller privaten Haushalte im EURO-Währungsgebiet widerspiegelt. Dabei wird die Inflation nicht nur insgesamt gemessen, sondern auch für verschiedene Gruppen wie z.B. Nahrungsmittel, Wohnung und Energie, Verkehr. Hier ist die Verbraucherpreisquote durchaus unterschiedlich. So beträgt die Preissteigerung im Bereich Verkehr im August 2021 im Vergleich zum Vorjahr 7,4%. Insofern sind die individuellen Inflationsquoten durchaus unterschiedlich zum HVPI. Ein weiterer Unterschied liegt auch in der Länder-Preisentwicklung. Die Verbraucherpreissteigerung im Bereich Verkehr lag im August 2021 in Deutschland bei 10,5%. Die EZB sieht die derzeitige Inflationsquote als Ausnahme und nicht als dauerhaft an (Schnabel auf den Unternehmergesprächen am 13.09.2021). Als Begründungen werden in der EU und speziell in Deutschland die Rückkehr zum alten Mehrwertsteuersatz, gestiegene Rohölpreise, die neue CO2-Abgabe oder gestörte Lieferketten angegeben. Dieses überzeugt aber nicht und erinnert eher an den Wunsch, das nicht ist, was nicht sein darf. Die EZB geht für 2021 von einer Inflationsrate von 1,9% und für 2022 von einer Inflationsrate von 2,5% aus:

Inflationsrate

Warum fehlt das Vertrauen in die Berechnungen der EZB?

Hierfür gibt es persönliche Auffassungen, die aber durchaus auch real sein können. Für erhöhte Inflationserwartungen spricht der jeden Tag spürbare Arbeitskräftemangel, dem letztlich nur mit erhöhten Löhnen begegnet werden kann, die immensen Kosten, um den Klimawandel zu begegnen und die Erfahrungen, die wir gerade gemeinsam mit der Abhängigkeit von globalen Lieferketten machen und die nur durch Lokalisierung mit erhöhten Preisen gelöste werden können. Der wesentliche Grund ist aber:

Die EZB will nicht die Inflation bekämpfen, weil die Erhöhung der Zinsen dramatische Auswirkungen auf die überschuldeten Südländer der EU hat.

Die Bedeutung der Inflationsquote ist nicht zu unterschätzen. Die Kaufkraft von heute € 100.000,00 beträgt bei einer jährlichen durchschnittlichen Inflationsquote von 2% in 10 Jahren € 81.707,00. Eine Inflationsrate von durchschnittlich 2% ist die von der EZB gewünschte Inflationsrate und damit vorgegeben. Wer also sein Alter plant, muss die Inflationsrate zwingend in die Kalkulation einbeziehen. Dieses wäre alles nicht so schlimm, wenn die Spareinlagen auch entsprechend eine Rendite abwerfen würden, die zumindest netto (!) der Inflationsrate entspricht. Dieses ist aber bei der Niedrigzinspolitik der EZB nicht der Fall. Also wird z.B. neben Aktien nach alternativen Anlagen wie Immobilien gesucht, was wiederum in diesem Bereich zu massiven Preissteigerungen führt und sich letztlich auch im Warenkorb zur Bildung des HVPI für den Bereich Wohnung wiederfindet. Mit Spannung wird zu beobachten sein, wie sich die Energiepreise unter der Klimaschutzpolitik nach der Wahl entwickeln.

Welches Interesse hat aber der Staat an der Inflationsvermeidung?

Der Staat müsste als vielschichtiger Auftraggeber ein Interesse an einer Preisstabilität haben. Eine Berechnung über die inflationsbedingte Kostensteigerung am Berliner Flughafen wäre sicherlich aufschlussreich. Die Inflation hat aber auch auf die Einkommensteuer einen Einfluss: Der Staat muss regelmäßig den sog. Grundfreibetrag anpassen, damit das Existenzminimum frei bleibt. Schließlich hat sich die Bundesregierung verpflichtet, die Steuerzahler regelmäßig von der kalten Progression zu entlasten.

Der Staat hat jedoch eine Ausweichmöglichkeit: Er kann über die EZB Geld drucken, Schulden aufnehmen oder Steuern erhöhen, eine Möglichkeit, die einem communis civis nicht gegeben ist. Ideal ist die Aufnahme von Schulden, da diese sich durch die Inflation selbst entwerten. Hiervon wird kräftig Gebrauch gemacht, und die Kreativität für entsprechende Titel ist deutlich höher als der Wunsch Ausgaben einzusparen. Nach bisher ausgeglichenen Haushalten beträgt die Schuldenaufnahme aufgrund der Pandemie von 2020 bis 2022 € 470 Mrd. Zum 31.12.2020 betrug das Vermögen des Bundes € 572,3 Mrd.; die Schulden lagen zum gleichen Zeitpunkt bei € 2.433,5 Mrd. (davon für Pensionen-und Beihilferückstellungen € 896,7 Mrd.). Im Wahlkampf war zu hören, dass die Zeiten noch nie so günstig waren, Schulden aufzunehmen. In einem Artikel vom 19.07.2021 beschrieb der Generalsekretär der FDP, Volker Wissing, die Inflation als den „heimlichen Dieb“. Mit Spannung wird zu beobachten sein, wie sich dieser Gedanke in einem zukünftigen Regierungsprogramm wiederfindet.

„Die Rente ist sicher!“

Dieser Kernsatz von Norbert Blüm aus dem Jahre 1986 ist von der Wirklichkeit überholt werden. Die Frage ist heute vielmehr, wie sichergestellt werden kann, bis zu welchem Zeitpunkt überhaupt noch eine Rente abgesichert werden kann, und ob die gesetzliche Rente ausreichend ist, den bisherigen individuellen Lebensstandard abzusichern.

Um es vorweg zu nehmen, ein Bundesminister und Bundeskanzler in spe hat hiermit keine Probleme, da seine Pension vollständig über den Bund abgesichert ist. Die Absicherung über den Staat für alle Beamte bei Bund und Ländern liegt bei einem Betrag von € 1,9 Billionen (Bund € 809 Mrd./Länder € 1.230 Mrd.) (Studie Institut der Deutschen Wirtschaft 23.10.2020). Herr Scholz braucht also für seine Alterssicherung nicht vorzusorgen („Mein Geld liegt auf dem Girokonto!“).

Der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium hat am 07.06.2021 von „schockartig steigenden Finanzierungsproblemen in der gesetzlichen Rentenversicherung ab 2025“ gesprochen, was Olaf Scholz („..alles Horrorszenarien, mit denen Rentenkürzungen begründet werden soll“) bagatellisiert hat. Als Lösungsvorschlag hat der wissenschaftliche Beirat empfohlen, das Rentenalter an die Lebenserwartung zu koppeln.

Grundsätzlich gibt es bei der Rentenpolitik den Konflikt zwischen einer adäquaten Sicherung des Lebensunterhalts im Alter und der finanziellen Nachhaltigkeit des umlagefinanzierten Rentensystems. Eine konsistente langfristige Politik ist hier nicht erkennbar. Vielmehr gibt es hier ein „Gestolpere“ von Wahlperiode zu Wahlperiode. Die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Schröder hatte den sog. Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt. Dabei wurde die finanzielle Belastung des Rentensystems durch den Rückgang der Anzahl von Menschen, die Beiträge zahlen, und dem Anstieg der Zahl der Menschen, die Renten empfangen, zu prozentual gleichen Teilen auf eine Beitragssatzerhöhung und eine Rentenniveausenkung verteilt. 2018 wurde dann der Nachhaltigkeitsfaktor durch die sog. „doppelte Haltelinie“ gleichsam storniert. Diese sieht die Absicherung eines Rentenniveaus von mindestens 48% und die Begrenzung des Beitragssatzes auf höchstens 20% allerdings lediglich bis 2025 vor. Gleichzeitig wurden mit der Erweiterung der Mütter- und der Einführung der Grundrente die finanziellen Spielräume weiter eingeengt und die intergenerative Verteilung deutlich zuungunsten der jüngeren Generation verschoben, was durch die Covid-19-bedingte Rezession noch verschärft worden ist (Gutachten wissenschaftlicher Beirat S.3).

Scholz verkündete im Wahlkampf:

„Ich garantiere: Das Rentenniveau bleibt stabil, und das Renteneintrittsalter wird nicht weiter steigen!“

Wie aber kann eine Rente abgesichert werden?

Dieses geht durch Veränderung des Rentenniveaus und des Beitragssatzes, durch Erhöhung des Steuerzuschusses, durch Veränderung des Renteneintrittsalter und durch ergänzende Vorsorge, alles also Themen, die vor einer Wahl schon als Diskussionsbasis absolut tabu sind.

Dabei sind bei der Bestandsaufnahme zur Rentenentwicklung eigentlich nur normaler Menschenverstand und keine komplizierten Berechnungen erforderlich:

  • Die Menschen werden immer älter.
  • Die Menschen, die heute nicht geboren sind, werden auch nicht geboren.

Der Anteil der über 65jährigen im Verhältnis der Personen zwischen 20 und 64 (sog. Altersquotient) erhöht sich ständig und liegt heute bei 36% (Berechnung wissenschaftl. Beirat S. 9).

Altersquotient

Nach einer Prognose des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) werden 1,3 Beitragszahler 2050 eine Rente finanzieren, während es in den 1990-Jahren noch drei Beitragszahler waren.

Die Lösungsansätze von politischer Seite sind verschiedener Art, keineswegs untermauert und leben vom Prinzip Hoffnung:

Zunächst hofft man auf den Arbeitsmarkt („Jobwunder“). Es gebe noch viele Möglichkeiten, das Erwerbspersonenpotential zu steigern, etwa durch eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, Älteren und Migranten, also:

Zur Sicherung der Rente muss die Anzahl der erwerbstätigen Frauen und die Einwanderungsquote erhöht werden und die Älteren müssen länger arbeiten.

Eine zweite Lösung wird in der Erwerbstätigenversicherung gesehen. In die Rentenkasse sollen neben Arbeitnehmern noch weitere Gruppen wie Abgeordnete, Selbständige oder Beamte einzahlen. Dieses ist nichts anderes als ein Verschieben des Problems. Der Liquiditätserfolg tritt sofort ein, das heißt kurzfristig gibt es eine Entspannung. Langfristig entstehen jedoch neue Leistungsansprüche.

Die Dimension des Problems der Finanzierung der Altersversorgung sei an folgenden Zahlen nochmals verdeutlicht:

  • Bei jährlichen Gesamtausgaben des Bundeshaushalts von € 1.678 Mrd. in 2020 lag der Zuschuss zur Rentenversicherung bei € 100 Mrd.
  • Die Versorgungsausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden sind im zurückliegenden Jahrzehnt um 50% gestiegen (Handelsblatt 13.08.2021) und werden weiter steigen.
  • Der öffentliche Dienst steht nach Angaben des Beamtenbundes vor der größten Pensionierungswelle der Nachkriegszeit.

Die seinerzeitigen Sorgen eines Herbert Wehner sind auch für die zukünftige Bundesregierung berechtigt:

Ich denke daran, was auf uns zukommt!